Immer schmaler werdend windet sich die unbefestigte Straße in steilen Serpentinen den Hang zum Val Grande hinauf. Dichte, von tiefem Grün gesättigte Wälder säumen die Piste und umgeben den kleinen Jeep, dessen Motor bei jeder Kurve kraftvoll aufheult. Hinter dem Fahrzeug verwirbelt trockener Staub zu einer dunstigen Wolke und vernebelt die Sicht. Das Gefährt kämpft sich die Höhenmeter nach oben und bringt seine Insassen rumpelnd und quietschend an ihr Ziel. Auch mich.
Woher ich an diesem Morgen komme, kann ich nur noch erahnen. Schon lange ist mir die Sicht auf die Ufer des Lago Maggiore und den See verdeckt. Wohlwissend, dass ich von Verbania aus gestartet bin, liegen die letzten Häuser schon seit längerem hinter mir. Obwohl es tatsächlich nur wenige Kilometer sind, die den Ort am Lago von der unberührten Wildnis oberhalb trennen, fühlt es sich doch für mich an, als würde ich eine ganz andere Welt besuchen. Als der Motor mit einem letzten Tuckern erstirbt bin ich endlich am Ziel. Oder vielmehr am Anfang. Denn ab jetzt heißt es Wandern.
Unterwegs im Nationalpark Val Grande
Am Eingang zum jüngsten Nationalpark Italiens, dem Val Grande, werde ich bereits von Ranger Manuel erwartet. Ein Lächeln im Gesicht begrüßt er mich zurückhaltend aber herzlich und beginnt sogleich vom letzten Paradies, seiner stillen Wildnis, zu schwärmen. Von der einzigartigen Tierwelt, den undurchdringlichen Wäldern und einem Novum, das wohl kaum ein anderer Naturpark Europas sein Eigen nennen dürfte: vom Menschen unbewohnter Lebensraum. Innerhalb der Grenzen des Val Grande gibt es nämlich keinerlei Besiedlung mehr. Die letzten Almen und Dörfer wurden im Zweiten Weltkrieg verlassen und fristen seitdem ihrem Zerfall, ihrem Ende entgegen. Begibt man sich also in die Wälder dieses Schutzgebiets, begibt man sich in mittlerweile ursprünglichste Wildnis.
Nach dieser kleinen Einführung lotst Manuel mich hinauf zur Alpe Ompio, einer kleinen Almhütte nebst eigener Kapelle. Im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört verdankt die ehemalige Alpweide ihren zweiten Frühling dem italienischen Roten Kreuz und 18 eifrigen Helfern, die der Ruine von 1946 bis 48 neues Leben einhauchten. Wo zuvor noch Schafe und Kühe weideten, später Käse-, Fleisch- und Milchprodukte gewonnen wurden, kann seitdem vorzüglich geschlemmt und in einsamster Wildnis übernachtet werden.
Wanderung zum Monte Faiè im Val Grande
Entlang eines kleinen Baches, der leise plätschernd seinen Weg ins Tal und in Richtung Lago Maggiore sucht, führt mich Manuel in entgegengesetzte Richtung den steilen Hang hinauf. Gemächlichen Schrittes wandern wir durch dichten Wald, in dessen Baumwipfel unzählige Vögel Zuflucht finden. Auch der Goldadler ist wieder heimisch geworden und bereichert neben Steinbock und Wolf die wilde Natur des Val Grande.
An der darauffolgenden Weggabelung machen wir kurz Rast und beschließen, dem Trampelpfad hinauf zum Monte Faiè zu folgen. Dieser verläuft steil und schmal, vor allem aber in Serpentinen immer weiter den Berg hinauf. Nur kurz gibt der dichte Mischwald den Blick auf den Lago im Süden und noch höhere Berge im Osten frei. Je weiter wir wandern, desto klarer und kühler wird die Luft.
Zwischenstopp an der Alpe Casarecce
Wenig später stoßen wir auf eine kleine Almsiedlung, deren niedrig gebaute Steinhäuser zwar instand aber wenig einladend wirken. Aus einem der Gebäude tritt ein alter Mann mit schlohweißem Haar und gebückter Körperhaltung. Ebenso überrascht wie wir blickt er uns an und beginnt zu lachen, als er begreift, dass wir nur harmlose Wanderer sind. Er lädt uns ein, öffnet unter Knarzen die alte, rostige Tür und schon wenig später stehen wir in einem kargen, einfachen aber durchaus gemütlichem Refugium ohne Strom und fließend Wasser. Nie hätte ich gedacht, dass die Hütten noch bewohnbar sind.
Es ist stickig in dem kleinen Raum, der nur Platz für ein schmales Bett und ein paar Regale an den Wänden bietet. In denen ist nur das Nötigste untergebracht: Teller, Tassen, Pullover, Strümpfe, auch zwei Bücher, eine alte Pfanne. Die Kochstelle ist voller Ruß und es riecht muffig – ähnlich dem Geruch feuchter Keller – obwohl das einzige Fenster, das nur spärlich Licht in den Raum lässt, weit offen steht. Vereinzelt werden solche Hütten zwar noch als Basis für Wanderungen oder Tierbeobachtungen genutzt, weiß der Alte zu berichten. Meist stehen sie aber leer. Dass sich an dieser Stelle mal eine ganze Almwirtschaft befunden haben soll, ist nur noch mit viel Fantasie erkennbar. Dafür lohnt die Aussicht auf die nördlichen Berge vor der Tür und lässt den strapazenreichen Aufstieg vergessen. Für einen Moment genießen wir gemeinsam die Stille der Wildnis.
Cromlech del Monte Faiè
Von der Alpe Casarecce führt die Wanderung recht gemütlich in nördlicher Richtung um den Monte Faiè herum und bietet etwas unterhalb des Gipfels eine ideale Stelle erneut zu rasten. Tief im Boden versackte Steine, um welche sich eine Handvoll Buchen kreisförmig dem Licht entgegenstrecken, lässt vermuten, dass es sich hierbei um eine Siedlung keltischen Ursprungs handelt. Weit reichen die historischen Wurzeln zurück. Auch an der Alpe Prà, oberhalb von Cicogna im östlichen Teil des Val Grande, lassen sich historische Relikte finden. Die dort gefundenen Felsbilder werden sogar noch früher datiert.
Heute findet man am Fuße des Monte Faiè nur noch vereinzelt Relikte; ein leer stehendes Gebäude kurz vor dem Einsturz und einen wunderbaren Ausblick in die Bergwelt italienischer Alpen am Lago Maggiore. Manuel und ich lassen uns nieder und genießen die Stille des Ortes. Selbst anderswo gewohnte Geräusche aus dem Tal dringen nicht bis hierher hinauf. Es ist still und einsam in dieser Wildnis. Die perfekte Zuflucht für Ruhesuchende wie mich.
Der letzte Eremit des Val Grande
Während ich meine Blicke über die fantastische Bergwelt schweifen lasse, beginnt Manuel mir eine Geschichte zu erzählen, die schwerfällt zu glauben. Ein erfolgreicher Unternehmer soll aus Liebe zur Natur beschlossen haben, der Gesellschaft zu entfliehen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends suchte er wohl die Einsamkeit des Val Grande, seine tiefen Schluchten und Wälder auf, um fortan als Einsiedler mit und von der Natur zu leben. Er aß und trank, was der Wald hergab und hielt sich meist versteckt. So soll er viele Jahre gelebt und sich nur denen gezeigt haben, die er für würdig hielt. Die Rede ist von Gianfry oder Gian, wie ihn viele nannten, dem vermutlich letzten Eremiten des Val Grande.
Doch so unglaublich die Geschichte auch klingen mag, ihr Ende verläuft tragisch und macht sie damit für mich glaubhaft. Nackt und ausgemergelt, alt und von der Wildnis gezeichnet, in der er weit mehr als ein ganzes Jahrzehnt verbrachte, wurde seine Leiche im Jahr 2016 an einem kleinen Bachlauf gefunden. Die Autopsie des Leichnams ergab, dass sich Gian unbeabsichtigt vergiftet hat. In vielen der kleinen Hütten, in die er immer mal wieder einbrach, wenn er hungerte und die natürlichen Ressourcen nichts mehr hergaben, bewahren Jäger und Fallensteller ihre Utensilien und Werkzeuge auf. Unter anderem auch Strychnin, was vornehmlich zum Töten von Mardern und Füchsen genutzt wird und schon in geringer Dosis lebensgefährlich ist. Ein Drama in der Bergwelt des Val Grande.
Auf den Gipfel des Monte Faiè
Was bleibt von einem Leben, wenn es zu Ende gelebt wurde? Erinnerungen. Und Geschichten wie diese. Noch in Gedanken versunken führt mich Manuel anschließend die letzten Meter hinauf auf den Gipfel des Monte Faiè. Der ist zwar mit seinen 1.352 Metern kein alpines Schwergewicht bietet aber ebenfalls einen wunderbaren Ausblick, den man sich keinesfalls entgehen lassen sollte. Mit Blick über den Lago Mergozzo, den Lago d‘Orta und natürlich den Lago Maggiore hängen wir noch eine Weile unseren Gedanken nach, bevor es nicht nur heißt, sich auf den Rückweg zu machen, sondern auch Abschied zu nehmen.
Die letzten Tage am Borromäischen Golf und damit im Norden Italiens gehen für mich mit dieser Wanderung langsam aber sicher zu Ende. Ich genieße den Ausblick noch ein kleines Weilchen länger, bevor mich Manuel weiter antreibt. Schließlich liegt der Rückweg noch vor uns und neigt sich der Tag bereits dem Ende entgegen. Nur soviel sei abschließend gesagt: Wer auch immer den Weg nach Baveno und an den Lago Maggiore findet, sollte nicht nur im See baden und auf der Piazza kalten Rosè trinken. Gerade die Bergwelt rundherum lohnt einen ausgedehnten Besuch.
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Weitere Infos zum Nationalpark Val Grande lassen sich hier finden.
Hinweis in eigener Sache (Disclaimer)
Meine hier beschriebenen Eindrücke durfte ich im Rahmen einer Pressereise sammeln, eingeladen und veranstaltet von Maggioni Tourist Marketing. Dabei sind mir Anreise, Unterkünfte und Verpflegung zur Verfügung gestellt worden, wofür ich mich recht herzlich bedanken möchte. Auf meine abschließende Meinung oder redaktionelle Freiheit wurde keinerlei Einfluss genommen. Diese entspricht ausschließlich meiner persönlichen Sicht.