Manchmal sind die schönsten Touren ja die, die ganz spontan unternommen werden. Da ich ohne Vorplanung in die Trentino-Dolomiten gefahren bin, kannte ich mich dort auch überhaupt nicht aus. Selbst die Webseiten der Tourismusunternehmen, die ich sonst im Vorfeld checke, habe ich diesmal ignoriert und bin einfach so zum Passo Rolle gefahren. Der Name kam mir bekannt vor, also wollte ich ihn mir ansehen. Dass ich dabei auf eines der schönsten Alpentäler, das Val Venegia, stoßen würde, war für mich absolut nicht vorhersehbar.
Doch eins nach dem anderen.
Start ins Val Venegia am Passo Rolle
Wer ein leidenschaftlicher Anhänger des Giro d’Italia ist, dem wird der Passo Rolle zweifellos ein Begriff sein. Dieser legendäre Pass, der bereits mehrfach als Etappenziel des prestigeträchtigen Radrennens diente, ist berühmt für seine herausfordernden Anstiege. Malerisch winden sich seine Serpentinen durch die atemberaubenden Trentino-Dolomiten und bieten im Sommer einen beliebten Ausgangspunkt für Wanderungen.
Auf einer Höhe von etwa 1.980 Metern gelegen, verbindet der Passo Rolle – auch bekannt als Rollpass – die charmanten Orte San Martino di Castrozza im Süden und Predazzo im Westen. Eingebettet in die majestätische Kulisse der Pale di San Martino, der größten Gebirgsgruppe der Dolomiten, ragen die Gipfel bis zu einer Höhe von fast 3.200 Metern steil empor. Dieses Naturparadies zieht nicht nur Kletterer und Bergsteiger in seinen Bann, sondern auch Wanderer, die die unberührte Schönheit der Landschaft genießen möchten.
KM 1 – Über die Wiesen des Monte Castellaz
Ich überquere die Kehre des Passo Rolle und wandere nach Norden. Hinter den weiten Wiesen der Hochebene ragen die höheren Berge auf, kalkweiß wie Zähne, die den Himmel schrammen. Wolken hängen an den Gipfeln, und obwohl die Sonne gelegentlich durchbricht, bleibt es kühl am Morgen. Gemütlich steige ich die ersten Höhenmeter hinauf, drehe mich um und bewundere den majestätischen Cimon della Pala, dessen scharfe Spitze von Wolkenfetzen umhüllt ist.
Oberhalb einer Wiese steht ein Schäfer mit seinen Hunden, die entspannt zu seinen Füßen ruhen. Während die Herde gemächlich grast, genießen Schäfer und Hunde die Ruhe. Als er mich sieht, hebt er grüßend den Arm, lächelt und stopft weiter an seiner Pfeife, die er sich wenig später genüsslich in den Mund steckt. Ich nicke ihm zu und gehe weiter. Für ein Gespräch bin ich zu sehr in Gedanken versunken und lasse lieber die Landschaft auf mich wirken. Das hilft, wie immer. Mit jedem Schritt werde ich ruhiger und bemerke nur nebenbei, wie der Pfad oberhalb der Wiese in einen kleinen Wald abzweigt. Die späte Herbstluft hat sich dort noch nicht ganz erwärmt, aber ist es dafür umso stiller. Für einen Moment bin ich allein unterwegs.
KM 4 – Panoramablick durchs Val Venegia
Das ändert sich schlagartig, als ich auf die Strada, den Forstweg, stoße, der mich durchs Val Venegia führen wird. Über die Holzbrücke eines schmalen Baches laufend, folge ich der breiten Forststraße, wende mich nach Süden und … Bamm! Die sich vor mir auftuende Berggruppe raubt mir den Atem und treibt mir Tränen der Ehrfurcht und Freude in die Augen. Ich muss einfach kurz stehen bleiben, denn so etwas Schönes habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Hinter grünen, dichten Tannen und dem schmalen, sich schlängelnden Bachlauf erheben sich eindrucksvoll die Pala-Dolomiten. Ihre zerklüfteten Gipfel recken sich in den Himmel und sind von bezaubernder Schönheit.
Offenbar geht es einer Französin meines Alters da ähnlich. Direkt neben mir bleibt sie ebenfalls stehen und flüstert „Magnifique! “. Dabei haben ihre Augen den gleichen Glanz, den ich gerade in meinen spüre. Als ihre Wanderfreunde aufschließen, lächeln wir uns wissend noch einmal zu und gehen wieder getrennte Wege. Das ist es, was ich am Wandern unter vielem anderen so sehr mag: Eine beeindruckende Landschaft und die Verbundenheit zu Menschen, denen man vorher noch nie begegnet ist und vermutlich auch nie wieder in seinem Leben begegnen wird. Aber für diesen einen Moment haben wir eine Gemeinsamkeit gefunden, die verbindet. Auch über Sprachbarrieren hinaus.
KM 6 – Zur Alm Malga Venegiota
Meine Empfehlung ist eindeutig: Diese Wanderung sollte man unbedingt in der vorgeschlagenen Laufrichtung unternehmen. Mit jedem Schritt, den man vorwärtsgeht, entfaltet sich das atemberaubende Panorama vor einem, und die majestätischen Berge scheinen immer weiter in den Himmel zu wachsen, je näher man ihnen kommt.
Fast am Ende des Tals, kurz bevor sich die Serpentinen zum Pass hinaufschlängeln, liegt im Schatten der imposanten Gipfel die Malga Venegiota. Diese Alm, die sich in bester Lage befindet, ist berühmt für ihre hausgemachten Käsespezialitäten. Hier gönne ich mir eine lange, ausgiebige Pause. Angesichts des spektakulären Ausblicks ist ein Platz auf der Terrasse natürlich heiß begehrt. Doch wer keine Scheu hat, sich zu fremden Menschen zu setzen, wird oft mit unterhaltsamen Gesprächen belohnt. In Kombination mit dem grandiosen Panorama kann man hier also eine wirklich wunderbare Zeit verbringen.
KM 7 – Am Wegesrand im Val Venegia: Madonna della Neve
Als die Wolken immer dichter werden und kaum noch Sonnenstrahlen durchlassen, bin ich bereits wieder auf dem Weg. Die schotterige Piste windet sich in steilen Serpentinen zum Segantini-Pass hinauf, und ich muss mich beeilen. Ein kühler Wind ist aufgekommen, was im Herbst meist nichts Gutes verheißt. Vorsorglich ziehe ich meine Regenjacke aus dem Rucksack.
Dabei fällt mein Blick auf eine kleine Kapelle abseits des Weges – die Madonna della Neve. Die Schneemadonna, wie sie übersetzt heißt, wird in verschiedenen Regionen Italiens verehrt und ist eine von vielen Bezeichnungen für die Jungfrau Maria. Hier bietet sich also ein kurzer Moment des Innehaltens.
KM 10 – Aufwärmen auf 2.200 Metern in der Almhütte „Baita Segantini“
Während ich die Serpentinen zum Segantini-Pass hinaufsteige, wird aus Vermutung Gewissheit: Es beginnt zu regnen. Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, denn erste Schneeflocken mischen sich in den Regen. Bald sind die Gipfelspitzen ringsum in dünnes Weiß gehüllt und verschwinden in dichten Wolken. Ich hätte besser Handschuhe eingepackt, so plötzlich ist es kalt geworden.
Wenig später erreiche ich die Baita Segantini auf knapp 2.200 Metern Höhe. Idyllisch an einem kleinen See gelegen, bietet sie den idealen Zufluchtsort zum Aufwärmen. Drinnen ist es brütend warm. Auf Stuhllehnen und provisorischen Wäscheleinen trocknen Pullover und T-Shirts derer, die keinen Regenschutz hatten. Gemeinsam warten wir das Schneegestöber ab und hoffen auf Besserung. Dabei erfahre ich, dass die Hütte 1936 von Alfredo Paluselli, einem Künstler und Dichter, erbaut wurde. Er legte auch den kleinen See an, fasziniert vom Spiel der Reflexionen von Hütte und Bergen. Sein Enkel Roberto führt die Hütte heute und ist ihr Küchenchef. Sehr köstlich und empfehlenswert!
KM 11 – Noch ein kurzer Abstecher zum Namensgeber: Punta Rolle
Nach einer guten Stunde verwandelt sich der Schnee endlich wieder in Regen, der wenig später ganz aufhört. Zum Glück ist der Boden noch warm, sodass außer an den Gipfeln nichts von der weißen Überraschung liegen bleibt. Lediglich die Wege sind nun etwas matschig. Da mich so etwas aber nicht im Geringsten stört, folge ich meinem ursprünglichen Plan und unternehme einen Abstecher zur Punta Rolle, dem Namensgeber des Passo Rolle.
Die Punta Rolle erhebt sich exakt 2.221 Meter in die Höhe und auf ihrem Aussichtspunkt thront ein Sendemast. Ein schmaler Trampelpfad, der an einer kurzen Stelle mit einer Kette gesichert ist, führt dorthin und bietet einen atemberaubenden Blick auf den Pass und die Hütte. Zumindest sollte er das. Dank des Wetterumschwungs hängen die Wolken sehr tief und aus den Tälern steigen vereinzelt Nebelschwaden auf. Doch auch so ist der Anblick beeindruckend und lohnt sich der Abstecher allemal.
Der Weg zurück zum Passo Rolle ist kurz und führt von der Hütte aus nur noch bergab. Wenig später stehe ich wieder am Ausgangspunkt meiner Wanderung und lasse ein letztes Mal die beeindruckenden Gipfel der Pala-Dolomiten auf mich wirken. Eines kann ich zum Abschluss definitiv sagen: Wer es liebt, beeindruckende Landschaften zu sehen und auf sich wirken zu lassen, für den wird diese Wanderung eine äußerst lohnenswerte Erfahrung sein. Mich hat das Panorama jedenfalls nachhaltig beeindruckt, und wie man vermutlich merkt, schwärme ich immer noch davon. ◆
Tipps & Infos
HINKOMMEN.
↠ Mit dem Bus der Linie B122 bis Passo Rolle. Segg. Segantini, Haltestellennummer 1224SR.
↠ Das Auto kann man am besten auf dem Parkplatz direkt am Passo Rolle stehen lassen. Doch Achtung! Der ist in der Hauptsaison im Sommer aber auch im Winter gern mal rappelvoll.
AUSRÜSTUNG.
Für diese Wanderung benötigt es festes Schuhwerk. Darüber hinaus würde ich immer Regenkleidung mitnehmen. Das Wetter kann in den Bergen sehr schnell umschlagen.
ESSEN & TRINKEN.
Unbedingt in den beiden Hütten, die auf dem Weg liegen, einkehren. Die hausgemachten Speisen sind echt lecker und das Panorama grandios.
↠ Malga Venegiota di Tonadico
↠ Baita Segantini
Zusätzlich gibt es noch eine weitere Alm. Die liegt zwar ein kleines Stück abseits des Weges, ist aber trotzdem zu empfehlen.
↠ Malga Venegia