Der Himmel ist heute Morgen genauso grau wie die Häuser von Protzen. Eigentümliche Stille umgibt uns. Kein Hund der bellt, kein Hahn der kräht. Auf dem Wunderblutweg wandern wir auf der Dorfstraße, die auch tatsächlich so heißt, vorbei an Bauten, welche die DDR wieder aufleben lassen. Irgendwie scheint die Zeit hier langsamer vergangen zu sein. Es ist Halbzeit. Doch das Gefühl der gefundenen Mitte stellt sich nicht wirklich ein, der Wunsch nach Zen erfüllt sich nicht. Der Weg ist nicht mehr wirklich Anfang, aber auch noch nicht Ende. Wir sind irgendwo mittendrin. Auf der Hälfte der Strecke, im Herzen der Prignitz, mitten in Deutschland. Dementsprechend fühlen wir uns. Jeder geht für sich in Gedanken versunken. Daniel läuft vorneweg, ich trabe im Abstand hinterher. Auch das muss einmal sein.
Von Protzen nach Wusterhausen (25km)
Immer auf der Straße, die uns wenig befahren an Manker vorbei nach Garz führt, treffen wir an der Garzer Kirche auf die beiden Pilger, denen wir gestern Abend schon begegneten. Die beiden Frauen erzählen den Weg aus ihrer Sicht, wir tauschen uns aus. Es tut gut zu erfahren, dass wir nicht die Einzigen sind, denen das Laufen heute schwerfällt, die nicht so richtig vorwärts kommen. Das Gotteshaus bleibt uns leider verschlossen, trotz mehrfachem Telefonieren und Befragen findet sich keiner, der einen Schlüssel hat. Der Pfarrer vielleicht. Doch der ist, wie in dieser Gegend üblich, nicht im Ort, sondern irgendwo unterwegs. Dennoch verweilen wir einen Augenblick ins Gespräch vertieft. Der Austausch mit einem guten Freund ist das Eine, mit Fremden etwas ganz Anderes.
Was habe ich dass die letzten Wochen vermisst. Das Laufen, das Gefühl unterwegs zu sein. Nicht mit Hilfsmitteln, sondern aus eigenem Antrieb, aus eigener Kraft.
Als die Sonne durch die Wolken bricht, verabschieden wir uns und gehen weiter. Barsikow, Metzelthin, überall das gleiche Bild. Verschlafene Weiler, Bauernhöfe, Felder. Die Kirche stets mittendrin. Nicht jedes Mal offen, aber auf Nachfrage sind die Einwohner hilfsbereit und organisieren den Schlüssel. Nicht zum ersten Mal bemerke ich einen an der Kirchentür angeschlagenen Zettel, auf welchem die Zeiten des sonntäglichen Gottesdienstes vermerkt sind. Alle drei Wochen in dieser, die anderen Tage in einer anderen Kirche im näheren Umfeld. Wie fast überall sind die Gemeinden zu klein und die Messe nur wenig besucht. Auf sechs bis acht Kirchen kommt ein Pfarrer und der kann schließlich nicht überall sein.
Auf dem Wunderblutweg wandern heißt durch deutsche Geschichte gehen
Auf Nachfrage erfahre ich, dass die Kirche eigentlich längst renoviert werden müsste, da sie einsturzgefährdet ist. Doch aus Geldmangel wird man sie wohl schließen und aufgeben müssen. Von manchmal nur drei bis höchstens zwanzig Gemeindemitglieder wird gesprochen, die sich zu dem aller paar Wochen stattfindenden Gottesdienst einfinden. Es sind zu wenig. Zu wenig Spenden, zu wenig Geld. Über die Jahrhunderte aufgebaut, nun dem Verfall preisgegeben.
Weiter führt uns der Weg über Felder, Wiesen, nur selten über wenig befahrene Straßen. Genug Zeit, die Gedanken zu ordnen, die Muße der Eintönigkeit zu genießen, ohne in Hektik zu verfallen. Ein Spruch aus meiner Kindheit, allzu gern den Eltern als Argument gebracht, fällt mir wieder ein: Komm‘ ich heut nicht, komm‘ ich morgen. Hier erfährt er Wirklichkeit. Was habe ich dass die letzten Wochen vermisst. Das Laufen, das Gefühl unterwegs zu sein. Nicht mit Hilfsmitteln, sondern aus eigenem Antrieb, aus eigener Kraft. Daniel geht es ähnlich und so schlendern wir wohlgemut in der wärmenden Sonne unserem heutigen Ziel entgegen. Wusterhausen. Schon von Weitem flößt uns das riesige Dach der Peter-und-Paul-Kirche Respekt ein und je näher wir kommen, desto größer wird er. Über alle Dächer des Ortes hinweg ragt es hinaus. Da hat jemand mal richtig geklotzt und nicht nur gekleckert.
Unsere Nacht, bereits im Vorfeld reserviert, verbringen wir im Deutschen Haus am Marktplatz. Zum Glück stellt sich heraus, dass der Name hier nicht Programm ist, sondern einfach vom Vorgänger übernommen wurde. Obwohl Rentnerin betreibt die Wirtin die Pension allein, denn der Sohn, der ursprünglich mithelfen wollte, setzte sich der Liebe wegen in den Westen ab und ließ die Mutter zurück. Ein riesiges Haus, fast unbewohnt. Rabenliebe einmal umgekehrt.