Schicksale & Geschichten — Wandern auf dem Wunderblutweg, Tag 4

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Sven Becker
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Von Wusterhausen nach Kötzlin (25km)

Peter und Paul, keine norddeutsche Schlager-Combo sondern die gleichnamige Kirche von Wusterhausen, verdankt ihren Namen dem Tag der Altarweihe, dem 29. Juni 1479. Es war der St. Peter- und Paulstag, an dem das Gotteshaus eingeweiht und damit der Gemeinde übergeben wurde. Groß und mächtig ersetzte es fortan die vorher einschiffige Basilika. Der Salzhandel hatte den Ort groß gemacht und die alte Kirche zu klein werden lassen. Chorgestühl, Johannesfigur und das Triumphkreuz sind noch original erhalten und somit weit über 500 Jahre alt. Auch heute noch lassen sie erahnen, wie viel Glanz die Kirche dereinst verkörpert haben muss. Doch so sehr wir auch fasziniert sind, uns zieht es weiter, denn wir wandern auf dem Wunderblutweg.

Immer am Ufer des Kiempowsees entlang, schlängelt sich der Weg bis nach Kyritz. Auch heute wandern wir auf dem Wunderblutweg und hängen die grauen Wolken tief, doch die Erfahrungen der letzten Tage geben uns Hoffnung. Möge das Glück uns auch weiterhin hold sein und es insgesamt trocken bleiben.

Kyritz – einstige Metropole zum Wandern auf dem Wunderblutweg

Nach 8 Kilometern gelangen wir in Kyritz, welches bereits seit 1237 über Stadtrecht verfügt, an. Uns überrascht die Größe der Marienkirche. Bombastisch hebt sich die klassizistische Fassade empor, hinter der sich eine spätgotische Hallenkirche verbirgt. Aus dem etwas abseits gelegenen ehemaligen Franziskanerkloster soll der Theologe Mathias Döring stammen, der als engagierter Vertreter der Wunderblutlegende in die Annalen der Stadtgeschichte einging. Befürwortete er doch, im Gegensatz zur aufkeimenden Kritik, die Wilsnacker Wallfahrt. Vom Kloster allerdings ist außer des Eingangs, der zwar direkt am Weg aber nur schwer zu erkennen ist, nichts mehr erhalten. Wie überall forderten auch hier die Jahrhunderte ihren Tribut.

Da dies die letzte große Ansiedlung auf dem Weg nach Wilsnack ist, frischen wir unsere Vorräte für die nächsten beiden Tage auf und richten uns gedanklich auf kleine Dörfer und die damit verbundene Einsamkeit ein. Endlich wieder allein. Auf Feld- und Wiesenwegen führt der Weg vorbei am Königsfließ, einem zur Entwässerung angelegten Kanalgebiet. Im Hochsommer muss es hier von Mücken nur so wimmeln, im Moment jedoch bleiben wir verschont. Immer wieder queren wir den träge vor sich hin dümpelnden Wasserweg, laufen auf Trampelpfaden durch die Wälder.

Von der DDR ins heute und zurück

Unterwegs machen wir Rast an einem Feld auf dem Kühe grasen und kommen mit einem Bauern ins Gespräch. Bereits 70-jährig muss er noch immer die Tiere versorgen, sonst tut es ja keiner. Die Rente reicht bei weitem nicht zum Überleben, geschweige denn zum Leben. „Immer mehr Alte sterben und die Jungen verlassen die Gegend. Sie zieht es in die Großstädte“ weiß er zu berichten. „Und die, die in die Dörfer ziehen, der Kinder und der Ruhe wegen, die haben ihre Arbeit in den nahen Städten. Die sind es gewohnt jeden Tag 30 Kilometer hin und her zu fahren.“

Und wenn es gesundheitlich nicht mehr geht? „Ja dann muss ich halt die 150 Kühe verkaufen und sehen wo meine Frau und ich dann bleiben. Wer soll sich um uns kümmern? In der DDR waren wir versorgt. Über Jahre haben wir den Hof aufgebaut.“ Nur die Kinder wollten nichts davon wissen. Sie zogen fort, führten ihr eigenes Leben und ließen die Eltern zurück. Keiner, der das Gut weiterführt.

„Verstehen kann ich‘s ja. Wer will denn heute schon mit dem ersten Hahnenschrei anfangen zu arbeiten und erst mit dem letzten Sonnenlicht ins Bett gehen. Und das 7 Tage die Woche. Kein Urlaub, kein frei, immer nur die Tiere.“ Mehr Komfort und Bequemlichkeit bietet da nun einmal nur die Stadt. Eine Gegend deren Tradition langsam stirbt.

Barenthiner Predigt

Gegenüber der Kirche von Barenthin befindet sich der Dorfladen von Familie Schulz. Ein kleiner Krämerladen, wie es sie heute kaum noch gibt. Ein Tante-Emma-Laden für alle Dinge des täglichen Bedarfs. Seit 130 Jahren wird das Geschäft schon von der Familie geführt, mittlerweile in 4. Generation. Selbst über den Krieg konnte die Urgroßmutter den Laden aufrecht halten und die Dorfbewohner mit dem Nötigsten versorgen. Doch die Konkurrenz der Supermärkte macht auch hier nicht halt. Mit dem Auto ist man überall mobil und kann billiger einkaufen. Familie Schulz setzt auf Notwendigkeit. Wenn einmal das Salz ausgeht, Getränke oder frische Brötchen – hier findet man sie. Auch wir greifen zu: frisches Obst aus der Gegend für unterwegs.

In der Kirche von Barenthin wird mal nicht von vorn gepredigt, sondern von hinten direkt ins Gewissen gesprochen. Habs schon zu Schulzeiten nicht gemocht, wenn der Lehrer hinter mir stand.

Auf den Spuren der Wende

Hinter Barenthin verlassen wir den eigentlichen Pilgerweg, da es in Göricke keine Übernachtungsmöglichkeit mehr gab und wandern nach Kötzlin. Der kleine Ort liegt nur 3 Kilometer abseits. Mittlerweile sind wir ja trainiert und für ein gemütliches Bett nebst warmem Essen nehmen wir den Umweg gern in Kauf. Bei Familie Kröhler haben wir vorgebucht und werden schon mit einem reichhaltigen Abendmahl erwartet. Während wir mit Herr und Frau, beide um die Achtzig, zu Tisch sitzen, erfahren wir ihre Lebensgeschichte.

Enteignet wurden sie als die Mauer und damit die DDR kam. Zwanzig Hektar Land nannten sie ihr Eigen und wurden durch die Zwangszusammenlegung in die LPG überführt. „200 Mark Pacht pro Jahr bekamen wir nur dafür, durften es nun aber nicht mehr selbst bewirtschaften. Ja was soll denn das. Das ist doch Mist“ ereifert sich Herr Kröhler auch heute noch über die damaligen Zustände. Demzufolge war er ziemlich froh als die Wende kam. Denn da fiel das Land wieder in seine Hände und er konnte fortan selbst entscheiden was damit geschah.

Die Kirchen, alle evangelisch, sind zum Teil sehr spartanisch. Den Glanz katholischer Zeiten sieht man ihnen nicht mehr an.

Frau Kröhler hingegen war über die Veränderung gar nicht erfreut. Sie betrieb zu DDR-Zeiten die Gaststätte im Ort. „Hach war das schön“ glänzen ihre Augen als sie sich erinnert. „Großveranstaltungen waren mir immer das Liebste. LPG-Treffen. Das hieß 70 bis 80 Menschen zu versorgen, ihnen das Menü zu kochen. Die Kellner und die Aushilfen, wir haben uns so gut verstanden.“ Als die Wende kam und die HO, die das Restaurant betrieb, Konkurs ging, war die schöne Zeit für sie vorbei. Seitdem wechselte das Lokal mehrmals den Besitzer, blieb aber meist geschlossen, so wie heute. Ihrem Mahl merken wir an, mit wie viel Leidenschaft sie einst dabei gewesen war.

Wandern auf dem Wunderblutweg – Schicksale der Prignitz.

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[…] ich komme mit ihr ins Gespräch. Ihre Situation nach der Wiedervereinigung gestaltete sich ähnlich der Bauern im Norden. Der einstige Hof warf nichts mehr ab, die Viehwirtschaft lohnte sich nicht mehr. So entschied man […]

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[…] ziehen fort und versuchen ihr Glück an anderer Stelle. Ein Umstand, auf den ich schon in der Prignitz stieß. Ein Beispiel des Verfalls: das ehemalige Schulgebäude in bester Lage des Stadtzentrums und […]

Daniela
12 Jahre zuvor

Was für einer schöner Fleck Landschaft. Sehr sehr schöne Bilder. Liebe Grüße, Daniela 🙂

Susanne
Susanne
13 Jahre zuvor

is manchmal schon echt interessant, was einem für schicksale unterwegs begegnen.
toll geschrieben. macht richtig spaß zu lesen. wie ein buch.

alles gute. susi

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