Blutrot steigt am Morgen die Sonne hinter dem Horizont hervor, nur um kurz danach hinter dichten Wolken zu verschwinden. Ein kühler Wind frischt auf. Der Winter schickt seine ersten Boten. Nach dem reichhaltigen Frühstück bei Familie Behrenbruch in der Pension Am Weinberg brechen wir am frühen Vormittag auf. Nichtsahnend, dass der heutige Tag einiges an geschichtlicher Wichtigkeit in der Nähe von Nebra zu Tage fördern wird. Wenn da nur nicht die leichten Kopfschmerzen vom Wein des Vorabends wären…
Im einstigen Hospiz deutscher Kaiser
Am Wegesrand ein Schild. Jemand hat in roten Lettern „Stoppeln verboten!“ darauf geschrieben. Die Felder entlang des Pfades aus Roßleben heraus sind zwar abgeerntet – braun und leer liegen sie vor uns – doch bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass hier und da noch vereinzelt Gemüse herumliegt. Kartoffeln, Rüben, Kürbis – laut Schild alles verboten aufzulesen, zu stoppeln wie der Volksmund sagt. Des Deutschen liebstes Kind ist ein Verbot, uns soll es recht sein. Einen medinzinballgroßen Kürbis mag auch wirklich niemand von uns die nächsten Kilometer schleppen.
Wenig später sehen wir schon von Weitem eine Burgruine, malerisch auf einem Fels hoch über der Unstrut gelegen. Zur einstigen Kaiserpfalz gehörend wurde vom Wendelstein seit dem 14. Jahrhundert über Fluss und Weg gewacht. Einige Jahrhunderte später ist aus der vermeintlichen Grenzfeste ein Wohnschloss geworden. Mietwohnungen im mittelalterlichen Gemäuer – ein Trend, der nicht nur in Wendelstein zu finden ist.
Direkt am Ufer der Unstrut führt ein Trampelpfad nach Memleben. Ein kleiner beschaulicher Ort, knapp 700 Einwohner groß. Das am Ortsrand gelegene Benedektinerkloster zeugt auch heute noch eindrucksvoll von einstiger Größe. Gotische Rundbögen und hohe Mauern schließen den Betrachter aus und verheimlichen, was nur gegen Entgelt zu besichtigen ist. Im 10. Jahrhundert von Otto II. gegründet untermauert es damit die wirtschaftliche Wichtigkeit des Ortes. Schließlich zog es einst Kaiser nach Memleben, um im hiesigen Stift zu sterben. Heinrich der Erste zum Beispiel. Sein Sohn Otto I. machte es ihm gleich. Beide zogen sich hierher zurück. Ein mittelalterliches Hospiz, welches noch immer von Mönchen am Leben gehalten wird und mittlerweile auch eine Pension besitzt. Übernachten in christlicher Fürsorge also.
Vom Wege abgekommen
Von Memleben führt der Wanderweg hinauf in den gleichnamigen Forst. Die Karte gibt zwei Wege vor: einen kurzen, knapp vier Kilometer lang, und einen drumherum, knapp acht. Wir entscheiden uns für den kürzeren, beginnt es doch just in diesem Moment zu regnen. Da der gewählte Pfad allerdings nicht ausgeschildert ist, passiert was eigentlich nicht passieren darf. Wir verlaufen uns. Der Vorteil an Wirtschaftswegen im Wald ist, dass sie stets nach kurzer Zeit einen weiteren kreuzen. Der Nachteil jedoch; werden sie nicht mehr genutzt, wuchern sie gnadenlos zu. Urplötzlich wird der eben noch breite Forstweg von Brombeeren überwuchert und ist zu Ende. Da allerdings keiner von uns rechte Lust hat, umzukehren, schlagen wir uns kurzerhand durchs Unterholz.
Kurze Zeit später kommen wir auf einen dieser querenden Wege, der nicht nur besser beschaffen ist sondern auch begehbar scheint. Doch auch hier das gleiche Spiel. Wenig später stehen wir erneut vor Unterholz, Sträuchern und dichtem Gebüsch. Mittlerweile sind wir dem Abhang zur Unstrut, die knapp fünfzig Meter tiefer fließt, gefährlich nahe gekommen. Das Gefälle ist unmerklich steiler und damit schwieriger geworden. Ein weidendes Rudel Rehe nimmt Reißaus als es uns wittert. Sehr zur Freude unseres vierbeinigen Begleiters, der ihnen versucht hinterher zu jagen. Einer jener Momente, in denen die gute Stimmung kippen könnte. Doch mit der nötigen Portion Galgenhumor meistern wir auch diese Situation und kommen zwei Stunden später dann doch noch irgendwie in Wangen an.
Nebra, Perle der Unstrut
Zur Belohnung scheint die Sonne. Wir gönnen uns eine längere Pause im idyllischen Waldschlößchen unweit des Besucherzentrums „Arche Nebra“. Da die berühmte Himmelsscheibe aber gar nicht hier ausgestellt ist, lassen wir besagte Institution links liegen und folgen dem Weg über die neugebaute Scheusslichkeit moderner Brückenarchitektur hinein in den Ort Nebra. Direkt am Ufer säumen eingefallene und verlassen Bauten die Straße, die lautstark von Kraftfahrzeugen aller Art genutzt wird. Abseits davon locken liebevoll gestaltete Bauernhöfe, die saisonales Gemüse anbieten und zum Verweilen einladen. Spätestens hier hätten wir den eingangs erwähnten Kürbis ohnehin erstehen können. Auch ohne zu „Stoppeln“. Ein betriebsamer Ort.
Da es immer mal wieder kurz regnet verlassen wir hinter Nebra den eigentlichen Wanderweg und folgen der kürzeren Straße in Richtung Karsdorf. Diese ist dank Bauarbeiten gesperrt, damit nur wenig befahren und wir können auf ihr richtig Strecke machen. Bert, der hochmotiviert vornweg stürmt, gibt die Richtung vor. Wir anderen folgen ihm in gebührendem Abstand. Manchmal muss man wohl selbst in einer Gruppe für sich allein sein.
Abendidylle in Karsdorf
Der ständige Wechsel zwischen Sonne und Regen hat Folgen. Zwei riesige Regenbögen entstehen über der Unstrut und tauchen das gesamte Tal, an dessen Hängen erste Weinfelder zu erkennen sind, in schönste Herbstfarben. Selten sah ich diese so zum Greifen nah und bin für meinen Teil versöhnt mit der kräfteraubenden Abkürzung im Memlebener Forst.
„Jede Generation, jede Epoche hat ihre Bauwerke. Dies ist eines unserer Zeit.“
Am späten Nachmittag erreichen wir endlich unser Tagesziel, welches zwar vom nahegelegenen Kieswerk unangenehm geprägt ist, aber dennoch mit gemütlicher Ursprünglichkeit aufwarten kann. Der Gastwirt im Landgasthof Karsdorf empfängt uns freundlich zuvorkommend und lädt uns ein, am Abend seine Gäste zu sein. Da sagen wir nicht nein, stecken doch die knapp 22 Kilometer und der strapaziöse Umweg spürbar in den Beinen.