Der Hausberg von Kössen
Nur schwer komme ich am nächsten Tag aus dem Bett. Ein Blick aus dem Fenster verrät mir auch warum. Es ist grau. Überall. Das nächste Haus verschwindet hinter Nebel. Selbst die Kirche gleich nebenan ist nur diffus auszumachen. „Das ist im Herbst normal“ verrät die Gastwirtin auf meine Nachfrage. „Aber im Laufe des Vormittags sollte der sich verziehen.“ Ihr Worte machen mir Mut, der auch zwei Stunden und ein ausgedehntes Frühstück später dringend von Nöten scheint.
Als sich auch gegen Mittag der Nebel noch nicht lichtet, beschließe ich meine Wetter-App auf dem Handy zurate zu ziehen. Und siehe da: gleich nebenan sieht es wohl besser aus. Wobei nebenan hier Österreich meint. Denn direkt hinter dem Durchbruchstal der Tiroler Achen im schönen Kössen soll angeblich die Sonne scheinen. Einen Webcam-Quervergleich später sitze ich im Auto und fahre einfach mal schnell ins Nachbarland um Wandern zu gehen. Ein Hoch auf Europa und seine offenen Grenzen.
Auf das Unterberghorn (1.773m)
Und tatsächlich: es stimmt. Die Wolken hängen in den Chiemgauer Alpen fest. Bereits wenige Meter nach der Grenze bricht der Nebel auf und kommt ein strahlend blauer Himmel zum Vorschein. Augenblicklich steigt meine Stimmung und frohlockt mich die Aussicht auf ein wenig Gipfelglück. Jetzt braucht es nur noch einen geeigneten Berg und aus diesem grau begonnen Tag kann vielleicht doch noch ein Wander-Highlight werden.
Wie ich im Laufe meiner Reise durch die Alpen, meiner Road To Alps, noch lernen werde, hat jeder noch so unscheinbare Ort, der etwas auf sich hält, einen eigenen Hausberg. Der von Kössen ist das Unterberghorn, ein gut erschlossener Aussichtspunkt, der sommers wie winters zum Outdoor-Vergnügen lädt. Zumindest schließe ich das aus der doch ziemlich beeindruckenden Seilbahn zu seinen Füßen.
Das Auto auf dem dazugehörigen (und vor allen Dingen kostenlosen) Parkplatz stehen lassend, folge ich den Wegweisern von Kössen in Richtung Gipfel. Anfänglich durch dichten Tannenwald, später auf ausgedehnten Wiesen folgt der Weg mehr oder weniger der Seilbahn. Immer wieder kreuze ich deren Trägersäulen, laufe unter ihr hindurch oder verschwindet die Sonne hinter den über mir schwebenden Gondeln. Doch das soll die Wanderlust nicht trüben, schließlich ist das eine Seilbahn und somit ein akustisch eher ruhigeres Gefährt.
Nach gut zwei Stunden komme ich an der Bergstation der Seilbahn an und genehmige mir eine ausgiebige Pause. Zu den Gondeln, die den Berg hinauf schweben, gesellen sich mittlerweile noch Paraglider, die das gleiche hinab tun. Hier am Berghang finden sie beste Startbedingungen und nutzen das extra für sie vergünstigte Ticket. Fast im Minutentakt bauschen sich die Schirme zu vollständiger Größe auf und schweben mit leichtem Knattern des Stoffes davon. Und es werden immer mehr. Mit scheinbar stetem Fluss fördert die Seilbahn neue Luftakrobaten zutage.
Auf den Gipfel
Doch mich gelüstet es nach mehr. Die Baumgrenze hinter mir lassend steigt es sich die letzten beiden Kilometer hinauf zum Gipfel recht ordentlich. Denn immer noch sind es knapp 300 Höhenmeter die geschafft werden wollen. Die Sonne brennt vom Himmel und ich komme ganz schön ins Schwitzen. Nur kurz rufe ich mir in Erinnerung, dass heute morgen alles noch ganz anders aussah und freue mich, Mitte Oktober solche Temperaturen erleben zu dürfen.
Letztlich folgt der Weg dem Grat hinauf zum Gipfel. Abseits davon geht es zwar steil bergab, doch die zum Teil ausgesetzten Wege sind sehr gut gesichert. Auch ängstliche Wanderer dürften hier keine Probleme haben. Immer wieder kommen mir Familien mit Kindern im Vorschulalter entgegen, die weder Angst noch Furcht zeigen.
Am Ende belohnt der Gipfel sämtliche Anstrengungen, welche die knapp 1.200 überwundenen Höhenmeter gekostet haben. Mein Blick erstreckt sich bis weit über die Hohen Tauern. Weiß glitzern am Horizont schneebedeckte Berge oder Gletscher, die weitaus höher gelegen sind, als das Unterberghorn. Ich suche mir ein kleines Plätzchen unterhalb des Gipfelkreuzes und lasse meine Gedanken dem Blick folgen, lasse sie schweifen. Und irgendwann ist Stille im Kopf. Bei diesem Anblick scheint jeder vormals noch so wichtige Gedanke komplett unwichtig. Die Erhabenheit der umliegenden Berge wirkt enorm beruhigend auf mich. Na Mensch, allein dafür hat sich die ganze Mühe doch gelohnt.