Global betrachtet ist es von den Chiemgauer Alpen bis nach Südtirol nur ein Katzensprung. Zeithistorisch sowieso. Jedoch von meiner ganz persönlichen Geduld aus betrachtet dauert der Weg durch Österreich einfach viel zu lang. Als ich spät abends in Sexten, meinem Domizil der nächsten Tage, ankomme hat die Dämmerung bereits eingesetzt. Oder vielmehr das Alpenglühen. So nennt zumindest der Kenner es, wenn vom Sonnenuntergang und damit einhergehender Rotfärbung der Kalkfelsen die Rede ist. Im Schatten von Rotwand und Dreischusterspitze ruht der Ort verlassen und still. Es ist Nebensaison und ein Großteil der ansässigen Hotels haben bereits geschlossen. Beizeiten begebe ich mich daher im Garni Hofer zur Ruhe, denn ab morgen werden nun endlich die Dolomiten unsicher gemacht.
Zum Pragser Wildsee
Ein Hahn ist es, der mich frühzeitig aus den Federn des Garni Hofer, einem kleinen Hotel im Stadtzentrum von Sexten holt. Da ich der einzige Gast bin kümmert sich die Herbergsmutter ganz rührend nur um mich allein und serviert mir frisch gebrühten Kaffee nebst ofenfrischem Brot. Während wenige Nebelfelder noch in tiefen Tälern hängen, drückt die Sonne schon jetzt, früh am Morgen, mit aller Kraft. Was ich am Chiemsee als Inspiration gefunden habe möchte ich heute in Original erleben. Ich bin gespannt. Vorfreude macht sich breit.
Dem Bus zum Pragser Wildsee entsteige ich nicht als Einziger. Ganze Generationen suchen mit mir einen der bekanntesten Bergseen der Alpen auf. Obwohl außerhalb der Hauptreisezeit ist der Reisebus schon morgens 10 Uhr gut gefüllt. Noch während ich aussteige schwirrt über meinem Kopf eine kleine Kameradrohne, dreht ihre Runde und verschwindet anschließend leise surrend in Richtung See. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl.
Grün schimmert das Wasser des Lago di Braies durch die Bäume an seinem Ufer. Laute Unterhaltungen, klickende Fotoapparate und herzhaftes Lachen dringen an mein Ohr. Ein Kind wird in einer Sprache beschimpft die ich nicht verstehe. Wobei es auch zärtliche Worte nur sehr laut ausgesprochen sein könnten. Die Wirkung lässt sich an seiner Reaktion nicht ablesen, er trottet einfach davon. Ganz schön was los, denke ich noch bei mir. Dabei bin ich noch nicht einmal richtig am See angekommen, sondern folge den anderen Ankommenden einfach nur in die selbe Richtung.
Rundweg um den Lago di Braies (4km)
Tatsächlich. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. Der offensichtlichen Beliebtheit des Sees ist es wohl geschuldet, dass sich ganze Touristenscharen an seinem Ufer tummeln. Ruhe und Erholung, wie auf Instagram-Bildern suggeriert, werde ich hier wohl nicht finden. Stattdessen Menschengruppen, die sich fotografierend und wild gestikulierend in Pose bringen. Gerade am Bootshaus, an welchem man sich hölzerne Ruderboote zu einem völlig überteuerten Preis ausleihen kann, steht eine riesige Schlange. Jeder will ein Selfie auf der berühmten Treppe. Oder lieber gleich raus aufs Wasser und … ups. Da kommt auch schon aus Richtung See die nächste Drohne angeschwirrt. Etwas größer und lauter, aber nicht minder dezent.
Um dem Andrang zu entfliehen schnüre ich meinen Rucksack etwas fester und mache mich auf den Weg. Einmal rund um den See führt eine ausgesprochen schöne Wanderung. Auch wenn ich hin und wieder gelb beschirmten Reisegruppen, sich gegenseitig fotografierenden Paaren oder einem Reitertross hoch zu Ross ausweichen muss. Definitiv! Dieser See ist eine Attraktion. Die Massen sind es jedoch nicht.
Obwohl der Pragser Wildsee traumhaft schön ist, total idyllisch inmitten hoher Berge liegt und die Sonne sich besonders romantisch auf seinem Wasser spiegelt, hält es mich leider nur diese kurze Wanderung an ihm. Als ich auch noch an der Kapelle von einem Mann mit Walkie-Talkie aufgehalten und gebeten werde, einen Moment zu warten und still zu sein, hilft auch Terence Hill, der kurz darauf in einer Ranger-Uniform auftaucht, nicht über meine Enttäuschung hinweg. Der dreht hier nämlich eine italienische Vorabendserie und trägt somit ganz nebenbei ebenfalls zum Touri-Ansturm bei. Denn das Aufsuchen von Drehorten, egal ob für Serien, Hollywood-Blockbuster oder eben Soap-Operas hat mittlerweile eine ganz eigene Dynamik entwickelt.
Weiterreise zum Toblacher See
Auf dem Rückweg mache ich kurz an einem anderen See halt. Der liegt geografisch gesehen nur einen Steinwurf vom Pragser Wildsee entfernt, ist aber ebenfalls ein typischer Bergsee. Unweit der Stadt Toblach trägt er ihren Namen und heißt auf italienisch Lago di Dobbiaco. Wer also wie ich, eher die abseitigen Sehenswürdigkeiten sucht, dürfte hier fündig werden. Denn kurioserweise habe ich diesen See fast für mich allein. Und genieße es.
So, dann wäre ich mal in den Dolomiten angekommen. Und bin auch gleich gewarnt. Offensichtlich sind die sehr beliebt. Gerade bei Tagesausflüglern. Und asiatischen Reisegruppen. Und Influencern. Und ja: irgendwie auch bei mir.
Apropos: Zum Thema Selfie-Wahn gibt es einen lesenswerten Artikel auf Welt.de