Kapitel 1: An der Nasswand
Winter 1916. Eisig pfeift der Wind von schneebedeckten Hängen herab. Kaltblaue Eiszapfen hängen lang und starr an den Bäumen. Dunkle Wolken, aus denen noch mehr Schnee zu fallen droht, stauen sich an den Gipfeln der Berge. Doch auf halber Strecke zwischen Toblach und Schluderbach herrscht zu Füßen der Nasswand, des 2.200 Meter hohen Croda Bagnata, reges Treiben. Frierende Soldaten in dicke Mäntel und dünne Decken gehüllt liegen verletzt auf den Tragen eines notdürftig zusammengeflickten Lazaretts im Schutz der Felsen. Emsig rennen Sanitäter umher, kämpfen gegen Erfrierungen, gegen die eigene Müdigkeit und versuchen mit allerletzter Kraft, den Verletzten zu helfen. So gut es eben geht, so gut es die Witterung eben zulässt.
Zu viele sterben. Am ehesten noch haben die im feindlichen Kugelhagel Getroffenen eine Chance. Kommen sie aus den Bergen, kommt meist jede Hilfe zu spät. Lawinen, Hunger, Erfrierungstod. Die Leichen stapelt man steif gefroren, um sie im nächsten Frühjahr, wenn der Boden wieder aufgetaut ist, unweit zu beerdigen. Direkt gegenüber des Berges, in dessen Flanke sie Hilfe suchen oder auf Rettung und Erlösung hoffen. Je nachdem.
Nur wenige von ihnen überleben die kalten Winter der Kriegsjahre 1915 bis 17 in den Dolomiten, überleben diesen sinnlosen Kampf. Die, die es nicht taten, liegen noch heute auf dem Cimitero di guerra, dem Kriegerfriedhof Nasswand, begraben. Ein trauriger Anblick im tief geschnittenen Tal, dessen umliegende Felsen sich majestätisch in den Himmel strecken. Den Bergen ist egal, was auf ihren Hängen und in ihrem Schatten passiert. Sie vergessen. Wir dürfen das nicht.
Kapitel 2: Der Lago di Misurina
Reichlich einhundert Jahre später regnet es kalte Tropfen aus dunklen Wolken. Mein erster Regentag in den Dolomiten. Demnach steht mir heute weniger der Sinn nach einer Wanderung, stattdessen lasse ich mich einfach mal treiben. Google gibt mir vor wohin und ich folge der digitalen Empfehlung vorbehaltlos. Vorbei am Toblacher See, den ich bereits kenne, schlängelt sich mein Weg entlang der ehemaligen Dolimitenbahn zwischen dem Naturpark Fanes-Sennes-Prags und dem Nationalpark Drei Zinnen hindurch in Richtung Süden.
In Höhe Misurina komme ich an einem glasklaren See vorbei, dessen Wasser smaragdgrün schimmert. An seinem westlichen Ufer, gesäumt von Hotels und Restaurants, lasse ich das Auto stehen und nutze die kurze Regenpause für einen Spaziergang. Führt mich der Weg anfangs entlang der Hauptstrasse biege ich wenig später dann doch in einen dichten Kiefernwald ab. Dahinter ragen kilometerhohe Berge auf, deren Gipfel in den Wolken verschwinden. Die berühmten Drei Zinnen in all ihrer Souveränität soll man von dieser Stelle erblicken können. Heute leider nicht. Auch sie sind versteckt unter grauen Schwaden.
Als es erneut zu regnen beginnt, habe ich es zum Glück nicht nur geschafft, den See komplett zu umrunden, sondern auch rechtzeitig in der Pizzeria Edelweiss Unterschlupf gefunden. Während vor dem Fenster ein sintflutartiger Regen losbricht, komme ich in den Genuss, eine wirklich gute Pizza zu essen. Auch oder gerade bei schlechtem Wetter ist ein gutes Mahl noch immer die halbe Miete. Als es sich erneut eingeregnet hat verlasse ich den idyllischen See und fahre weiter.
Kapitel 3: Das Messner Mountain Museum in Bruneck
Von Misurina bis zum Messner Mountain Museum „Ripa“ auf Schloss Bruneck sind es knapp 50 Kilometer. Trotz der Entfernung lohnt sich die Strecke. Nicht nur landschaftlich bekommt man unterwegs Abwechslungsreiches geboten. Auch das ursprünglich als Castell geplante Schloss ist schon von Weitem eine Augenweide. Auf einem Berg über der Stadt thront der Bau und fordert seinen Besuch förmlich heraus. Das Auto lasse ich in der kostenpflichtigen Parkzone etwas unterhalb stehen und nutze eine weitere Regenpause für den kurzen aber knackigen Aufstieg.
Der eindrucksvolle Bau verweist auf eine vielfältige Geschichte. Im Laufe der Jahrhunderte wechselt der Prachtbau des Öfteren seine Bestimmung: erst Befestigungsanlage, später Kaserne, danach Gefängnis und zuletzt Schule. Bis es letztlich umfassend saniert und einer neuen Bestimmung überführt wird vergehen noch ein paar Jahre. Erst 2004 – frühe Bauten reichen bis 1250 zurück – kommt die Burg in den Besitz der Stadt Bruneck und gelangt über Umwege in die Hände Reinhold Messners. Dieser baut es schließlich zu einem Museum aus, dem Messner Mountain Museum „Ripa“.
Eindrücke im Messner Mountain Museum
Im Museum selbst kommen die Bergvölker der Welt zu Wort. Über Jahre von Messner gesammelt oder als Geschenk erhaltene Gaben lassen sich thematisch sortiert in den heiligen Mauern finden. Verknüpft mit buddhistischen Sichtweisen erhält der Besucher somit einen tiefen Einblick in die Kultur und das Leben sesshafter Gruppen von den Höhenzügen des Himalaya bis in die Tiefen der Anden, von den schneebedeckten Berghängen der Rocky Mountains bis hin die Hochtäler mitteleuropäischer Alpen. Ohne zu viel verraten zu wollen – schon lange habe ich nicht mehr so viel Zeit in einem Museum verbracht, wie in diesem.
Noch während ich durch die ehrwürdigen Hallen schlendere und gedanklich in die Tiefen alpiner Berggeschichte abtauche, zieht das Regengebiet weiter. Vorsichtig trete ich unter der Überdachung des Westturms hervor und erblicke endlich Sonne hinter all den Wolken. Da sage noch einer, an einem Regentag wie diesen ließe sich nichts Neues entdecken. Drei recht unterschiedliche Kapitel der Dolomiten kann ich dank des Wetters auf meiner Habenseite verbuchen. Zukünftig auch gern mehr davon. Nur nicht unbedingt morgen. Da möchte ich lieber wieder wandern.