Der Spessart meiner Kindheit war mir lediglich durchs Fernsehen bekannt. Als wohlgeratener „Zoni“ war mir der dort spielende Film mit Liselotte Pulver zwar vertraut, hörten aber meine Träume an der innerdeutschen Grenze wieder auf. Es brauchte erst den Fall der Mauer und danach noch knapp 25 Jahre, um mir diesen Kindheitstraum wieder in Erinnerung zu rufen. Aber jetzt, wo die Wege frei und der Wald in erreichbare Nähe gerückt sind, kann es kein Halten mehr geben. Von meinem Bruder begleitet erforschen wir den südlichen Teil des Gebiets, das noch in Kindheitstagen unerreichbar schien…
Exkurs im Spessart: Ist Schneewittchen eine Lohrerin?
Sagen, Märchen und Mythen scheinen im Spessart tief verwurzelt zu sein. Die Gebrüder Grimm, in Hanau geboren, sammelten von Steinau an der Straße aus ihre Kinder- und Hausmärchen, Wilhelm Hauff schuf mit „Das Wirtshaus im Spessart“ einen Bestseller und Dr. Karlheinz Bartels begründete in Lohr am Main die Fabulologie.
Fabu… was?
FABU – LO – LO – GIE. Richtig gelesen. Damit meint man gemeinhin die Ergründung bzw. Erforschung alter Märchen und Sagen auf ihren Wahrheitsgehalt. Und tatsächlich. Eben benannter Dr. Karlheinz Bartels kam Schneewittchen auf die Schliche und erörterte den Zusammenhang mit einer jungen Frau, die einstmals in Lohr gelebt haben soll.
Mit der jungen Frau meinte er Maria Sophia Margaretha Catharina von Erthal gefunden zu haben, die 1729 im Schloss zu Lohr am Main geboren ward. Der Vater heiratete dereinst ein zweites Mal wobei die Stiefmutter als herrschsüchtig und gemein galt. Von Lohr aus gab es damals einen Höhenweg, der – sofern die junge Frau diesen Weg gegangen sein sollte – über sieben Berge zu einer Gegend führte, in der kleingewachsene Männer in Bergstollen arbeiteten. Damals hätte man wohl nicht ganz politisch korrekt Zwerge gesagt.
Tatsachen also, die Herr Bartels nachweisen konnte und damit glaubte, bewiesen zu haben, dass Schneewittchen eine Lohrerin ist. Nachzulesen ist dieser vielleicht doch nicht ganz wissenschaftliche Ansatz in seiner These „Schneewittchen: Zur Fabulologie des Spessarts“, die 1990 veröffentlicht wurde und auch heute noch dauerhaftes Interesse weckt. Besonders bei dem Tourismusverband von Lohr am Main, der diese These aus touristischer Sicht gnadenlos ausschlachtet. Und hier, in diesem beschaulichen Städtchen, beginnt also unsere Wanderung.
Durch den Spessart von Lohr am Main nach Rothenbuch (15km)
Der Main trägt Hochwasser. Die letzten Tage hat es ausgiebig geregnet. Wir jedoch haben Glück, denn unsere Wanderung beginnt einmal mehr bei tropischen Temperaturen rund um die 30 Grad-Marke. Das Auto lassen wir kostenlos auf dem Parkplatz am Mainufer stehen und bauen auf einen wohlgestimmten Wettergott, der uns fortan nur noch sonnige Tage und wenig Niederschläge bescheren möge. Nicht, dass das Wasser in unserer Abwesenheit noch über die Ufer tritt!
Wir wappnen unseren Rucksack und verbinden die ersten Schritte der neuen Wanderung mit einer Besichtigung der romantischen und verwinkelten Gassen von Lohr. Am Schloss vorbei, wo wir das erste Mal mit der oben beschriebenen Theorie in Berührung kommen, besorge ich uns noch schnell im Büro der Touristinformation ein aktuelles Übernachtungsverzeichnis. Denn dieses Mal habe ich lediglich die Route rausgesucht und vorbereitet, die Übernachtungen wollen wir je nach Tagesgefühl und Vorankommen vor Ort suchen. Es ist zwar bereits Mitte Juni und damit Hochsaison, aber noch sind keine Ferien, so dass wir frohen Mutes sind.
Auf dem Speassartweg 1
Der verlässt uns auch nicht, als wir die ersten Höhenmeter durch die „Klapper“, einer von steilen Abhängen gesäumten Kluft, auf den Spessartweg 1 hinauf kämpfen. Immer wieder erstaunt es mich aufs Neue, wie schnell man doch eine Ortschaft hinter sich lassen kann und wie wenig Kilometer es braucht, um städtisches Treiben zu vergessen. Vorbei am Rothenberg (456m) lassen wir Rechtenbach links liegen und folgen dem sehr gut ausgeschilderten Weg weiter über den Hengstkopf (506m) in Richtung Rothenbuch.
Immer weiter dringen wir dabei in die tiefen Wälder des Spessarts vor und einmal mehr bin ich froh, dass es in diesem Land noch genug Freunde des begrünten Waldes gibt. Unter den Schatten spendenden Kronen lässt es sich auf ausgetretenen Pfaden vorzüglich wandern. Stünde hier dagegen kein einziger Baum, wäre die Freude nur halb so groß. Das wissen sicher auch die vielen Flurkreuze sowie Mini- und Kleinstaltare „zu schätzen“. Wind und Wetter ausgesetzt wären sie wohl dem Verfall preisgegeben. So können wir uns aber an jeder einzelnen erfreuen und lernen den Spessart fortan als sehr gläubiges, fast schon abergläubiges Gebiet kennen. Denn ein jedes davon ist in Schuss und top gepflegt.
Ankunft in Rothenbuch im Herzen des Spessart
Am Abend kommen wir erschöpft aber noch immer frohen Mutes in Rothenbuch an. Oberhalb des Ortes machen wir unsere vorerst letzte Rast und ich nutze die Zeit, um im Übernachtungsverzeichnis nach einer adäquaten Unterkunft zu schauen. Voila! Vier davon sind hier verzeichnet. Doch bereits an der ersten werden wir rüde abgewiesen. Naja, was heißt rüde. Auch nach merhmaligem Klingeln macht uns keiner auf, obwohl die Gardinen hin und wieder Leben im Gemäuer vermuten lassen. Nach einer halben Stunde hat die ältere Dame, die immer wieder dahinter hervorlugt, wohl von meinem dauerhaften Klingeln die Faxen dicke. Sie öffnet die Tür und klärt uns auf, dass dies hier sehr wohl mal ein Gasthaus war, aber nach dem Ableben des Ehemannes keines mehr ist. Sie alleine schafft es nicht, das Etablissement zu betreiben und hat es daher letztes Jahr geschlossen. Ich spreche ihr mein Mitgefühl aus und schäme mich meiner unfairen Gedanken. Aber im Grunde hätte sie das auch gleich sagen können und uns nicht 30 Minuten unnütz zappeln lassen müssen.
Weiter gehts! Schließlich verfügt der Ort laut Verzeichnis auch über einen Zeltplatz. Vielleicht können wir in den darin erwähnten Hütten Unterschlupf finden. Zurück zum Ortseingang und dann scharf rechts gehalten sehen wir schon von Weitem … nichts. Mich beschleicht das Gefühl, vorbei gelaufen zu sein, als mein Bruder plötzlich in einen Trampelpfad abbiegt und wir auf einem Parkplatz für Camper und Wohnmobile stehen. Eines davon parkt verlassen vor einem Automaten, an dem man sich sein Ticket für die Nacht und den benötigten Strom selbst ziehen kann. Ein automatisierter Stellplatz also. Von den Hütten jedoch keine Spur. Auch die „Rezeption“ ist vernagelt und verrammelt und wirkt seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet. Puhh! Wieder nichts. Also wenn das ein aktiver Zeltplatz sein soll, dann gehe ich auch als Hochleistungssportler durch.
Aus 4 mach 1 – Glück gehabt
Da wir keine Lust aufs Weiterwandern haben und es mittlerweile auch schon später Nachmittag ist, geben wir uns nicht geschlagen und versuchen es nun eine Preiskategorie höher. Mitten im Ort gibt es noch das Schlosshotel Rothenbuch, ein 4-Sterne-Haus in mittelalterlichem Ambiente. Doch auch hier stehen wir vor verschlossenen Türen. Ein angeschlagenes Schild gibt Auskunft und verweist auf die Schließung aufgrund gesundheitlicher Probleme. Holla! Das ist ja mal ganz was Neues. Gesundheitliche Probleme für wen? Für die Besucher? Oder den Gastwirt?
Aus einem Wohngebäude nebenan kommt lachend eine junge Frau auf uns zu und hilft aufzuklären. „Gesundheitliche Probleme sind es nicht, die zur Schließung führten“ meint sie. „Der Betreiber ist schlichtweg pleite gegangen.“ Zu schade! Bei den vorherrschenden Übernachtungsverhältnissen müsste hier doch der Reibach zu machen sein. Sie empfiehlt uns in südliche Richtung weiter zu wandern, dort gäbe es noch das Hotel Spechtshaardt (jawohl mit Doppel-a!), welches zwar nicht ganz preiswert aber dafür sehr gut sei. Wir bedanken uns und ziehen weiter.
Tatsächlich! Als allerletzte Option, die Rothenbuch seinen Besuchern zur Verfügung stellt, hat das Hotel Spechtshaardt tatsächlich geöffnet. Und obendrein auch noch ein Zimmer frei! Bei unserem Glück hätte es mich nicht gewundert, wenn es zwar offen aber dafür ausgebucht wäre. Somit findet unsere kleine Odyssee der Herbergssuche doch noch ein friedvolles Ende. Vor allem wir ein gemütliches Bett und eine geruhsame Nacht. Kurz ziehe ich in Betracht, das Übernachtungsverzeichnis aufgrund seiner Nicht-Aktualität einfach zu entsorgen, entscheide mich aber dagegen. Wer weiß, was uns diesbezüglich die nächsten Tage noch erwarten wird. Lieber einen Strohhalm der kaum etwas taugt, als ganz abzusaufen.
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