Auch der heutige Tag beginnt mit Frühnebel, der sich beizeiten verzieht und anschließend einen sonnigen Herbsttag verheißt. Da ich noch immer allein und der einzige Gast im Berghotel Garni Hofer bin, wird mir erneut die gesamte Aufmerksamkeit der Herbergsmutter zuteil. Es irritiert mich, wenn meine Bedürfnisse so stark im Mittelpunkt stehen. Doch den frischen Kaffee und das ofenfrische Brot weiß ich sehr zu schätzen. Zu dumm nur, dass ich kein italienisch und mich nicht entsprechend bei ihr bedanken kann.
Auf dem Weg zum Helm, dem Monte Elmo
Die heutige Wanderung wird mich von Sexten aus mit der Seilbahn bis zur Bergstation und von dort über den Helm, den Monte Elmo, bis zur Silianer Hütte und zurück in den Ort führen. Dem gestrigen Trubel am Pragser Wildsee, der noch immer leicht abschreckend nachwirkt, versuche ich somit zu entfliehen. Und ich behalte recht. Nachdem uns die Bergbahn auf 2.000 Höhenmetern abgesetzt hat, verlaufen sich auch schon unsere Wege. Während viele der Mitreisenden in der Hahnspielhütte einkehren, führt mich mein Weg an ihr vorbei in Richtung Helm-Gipfel. Schon von Weitem erblicke ich die Hütte des Monte Elmo, wie ihn der Südtiroler nennt, und zieht mich magisch an. Doch noch wollen auf den Serpentinen des Wanderwegs die knapp 400 Höhenmeter zu ihr überwunden werden.
Unterwegs und gut eine Stunde später mache ich Rast auf einer Bank. Schon ganz schön durchgeschwitzt komme ich hier das erste Mal dazu, mir die Umgebung genauer zu betrachten. Und bin fortan sprachlos. Auf knapp 2.200 Metern Höhe schweift mein freigewordener Blick von Sexten, knapp 800 Meter tiefer, bis hinauf auf die Gipfel der Rotwand, gut 1.000 Meter höher noch als ich es gerade bin. Solch eine kraftvolle Landschaft, so furchteinflößend und anziehend zugleich habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Sofern das überhaupt möglich ist: ich bin augenblicklich verliebt. Schroffe, karge Felsen gepaart mit grün-goldenen Wäldern und kleinen, unscheinbaren Häusern soweit das Auge reicht. Warum musste ich erst so alt werden, um diese Landschaft für mich zu entdecken. Das hätte ich doch auch schon viel früher haben können. Viel zu lange genieße ich diesen Anblick und es braucht erst einen frischen, aus dem Tal heraufziehenden Wind, der mich weiter in Richtung Gipfel treibt.
Schicksalhaftes auf dem Gipfel
Im Windschatten der Hütte sitzt ein junges Paar. Verträumt aber traurig schauen sie ins Tal. Als ich an ihnen vorbeigehe, erlausche ich Gesprächsfetzen. Sie streiten sich. Leise zwar, aber nachdrücklich. Ein Ende scheint in Sicht. Das Ende eines fantastischen Sommers, das Ende des Urlaubs und, so höre ich heraus, auch ihrer Beziehung. Es gibt Gespräche, die sind so wichtig und dringend, dass sie einfach geführt werden müssen. Egal wo. Auch beim wundervollsten Anblick der Dolomiten. Es hilft ja doch nichts. Ihnen zuzuhören betrübt mich. Daher beschließe ich meine eigentlich für den Helm geplante Gipfelpause zu verschieben und gehe weiter.
Immer auf dem Kamm laufend und mich Meter um Meter weiter in die Höhe wagend pfeift mir ein frischer Wind um die Ohren. Trotzdem es Herbst ist, es immer noch 20 Grad hat, verspricht die Böe doch schon einen herannahenden Winter. Kühl und frisch ist sie. Auch die Lärchen rund um den Gipfel glänzen bereits gelbgold und schmiegen sich um die Berge wie ein dichtgewebter Schal. Eine Farbgewalt in tief stehender Sonne.
Rückweg über die Silianer Hütte
An der Silianer Hütte empfängt mich wiederum eine ganz andere Stimmung. Eine Wandergruppe, geschätzt mein Alter, sitzt bei ihrer Brotzeit und lacht. Eine Flasche Wein macht die Runde, ich werde eingeladen. Wir machen einander bekannt und plaudern ein wenig. Ein Franke, zwei Kölner, ein Österreicher. Erst gestern Abend hat man sich in der einzigen noch offenen Bar Sextens kennengelernt und im Vollrausch gemeinsam die heutige Wanderung beschlossen. Es wird herzhaft gelacht und Fremde weicht Geborgenheit. Während an der einen Hütte Bindungen getrennt werden, werden sie hier gefestigt. Ein Schicksalstag am Helm.
Nach einer vergnüglichen Pause verabschiede ich mich und begebe mich auf den Rückweg. Der führt über die 2.537 Meter des Hochgrubengipfels und vorbei an der Bergstation der Drei Zinnen Bahn bis zurück unter die Baumgrenze. Durfte ich von oberhalb lediglich die goldene Färbung der Lärchen erblicken, darf ich sie nun durchwandern. So ungefähr muss sich Dagobert Duck beim Sprung ins Geldbad seines Tresors fühlen. Gold. Ü-ber-all. Waldbaden nennt der Esoteriker das und verspricht sich davon seelisches Gleichgewicht und körperliches Wohlbefinden. Zwar bin ich diesbezüglich etwas skeptisch, komme aber nicht umhin festzustellen, dass mich der heutige Tag dem Wellnesstrend vielleicht doch ein ganz kleines Stückchen näher gebracht hat. Und so laufe ich die letzten Kilometer bis in den Ort und bade was das Zeug hält. Was für ein Herbst! Welch eine Landschaft! Was für ein Glück!