Wenn die Füße laufen, aber die Sorgen stehenbleiben – Auf der Insel Hiddensee wandern

Kann man auf Hiddensee wandern? Das will ich herausfinden. Aber eigentlich hat es einen anderen Grund, warum es mich nach Hiddensee zieht. Eine berühmte Persönlichkeit meiner Kindheit verbrachte auf dieser Insel nämlich ihre Sommer. Die Rede ist von Gret Palucca. Zusammen mit Mary Wigman machte sie den künstlerischen Tanz in Deutschland groß und galten die beiden als dessen berühmteste Vertreterinnen. Ich hatte das große Glück, bei ihr trainieren zu dürfen. Und das, obwohl sie eigentlich keine Jungs unterrichtete, nur Mädchen. Auf Hiddensee liegt sie begraben und daher wurde es Zeit, diese wunderbare Insel zu besuchen.

Auf Hiddensee wandern

Das Erste, was mir sofort ins Auge oder vielmehr ins Ohr sticht, nachdem der Motor der Fähre verstummt ist, ist die allumfassende Stille. Sanfte Wellen plätschern gegen die Hafenmauer des Örtchens Kloster, während in der Ferne ein paar Möwen kreischen. Nur der Wind rauscht leise, sonst nichts. Das Schöne an dieser Insel ist, dass sie autofrei ist. Der Nachteil daran ist jedoch, dass fast alle, die mit mir auf der Insel ankamen, einen der bereitstehenden Handwagen für ihr Gepäck benutzen. Und diese Dinger quietschen zuweilen erbärmlich.

Rosenhimmel im Kirchenschiff – KM 1

Mein erster Halt ist die Kirche im Herzen des Ortes. Mein Wanderweg führt mich ohnehin daran vorbei und offenbart eine kleine Besonderheit. Denn eines sollte man wissen: Auf keiner Insel war die Dichte an Künstlern so hoch wie auf Hiddensee. Schriftsteller, Tänzerinnen und Maler fanden hier einen Zufluchtsort und konnten dem Alltag wunderbar entfliehen.

Daher überrascht es nicht, dass die Decke der Kirche von keinem Geringeren als Nikolaus Niemeier bemalt wurde. Dieses Werk gilt bis heute als sein bekanntestes Frühwerk. Im Blau der See erstrahlt das gesamte Gewölbe des sonst weiß getünchten Kirchenschiffs, auf dem Rosenblüten und Kränze treiben. „Rosenhimmel“ nannte er seine Arbeit. Obwohl Niemeier selbst eigentlich in Vitte lebte, ist seine tiefste Verbindung zur Insel in der Kirche von Kloster zu finden.

Durch dichten Wald zu schönsten Ausblicken – KM 2

Direkt hinter der Ortschaft Kloster, die tatsächlich mal ein Kloster sein eigen nannte, von dem aber heute außer der Kirche nichts mehr erhalten ist, schlängelt sich ein schmaler Trampelpfad den Hang hinauf und taucht wenig später in einen dichten Wald ein. Jetzt, im Herbst, erstrahlen die Bäume in prächtigen Gelb- und Goldtönen, die selbst unter dem grauen Himmel leuchten. Vom Wind gebeugte Fichten und Buchen stemmen sich entschlossen gegen das Steilufer und verleihen ihm Halt und Festigkeit. Fast 40 Meter hoch erhebt sich der gelbliche Sand von der Ostsee empor. Wie aus der Ferne dringt das sanfte Rauschen der Wellen herauf, die weiter unten sachte an den Strand schlagen.

Am Leuchtturm Dornbusch – KM 3

Einer der schönsten Orte, um die Ostsee zu sehen und den nördlichen Teil der Insel zu überblicken, liegt am Leuchtturm. Er überragt die Insel und ist schon von der Fähre aus gut sichtbar. Seine Höhe von 28 Metern plus die Standorthöhe ergeben einen Lichtkegel aus 94 Meter Höhe, der alle 220 Sekunden eine Runde um die Insel dreht. Selbst aus 25 Seemeilen (etwa 46 Kilometer) Entfernung erkennt man das Licht im Dunkeln deutlich.

Vom Plateau aus genieße ich den Blick zur Insel Rügen und über die Ostsee. Auf einer Bank mache ich eine kurze Pause. Während am Horizont die Sonne gegen die Wolken kämpft und rotgelbe Streifen das Grau durchbrechen, zieht ein Segler zieht seine Runden und kommt nur langsam voran. Es ist schön hier, und verliere ich fast die Zeit aus den Augen.

Auf Hiddensee wandern: Abstecher zum Enddorn – KM 6

Ursprünglich wollte ich meinen Weg über den Svantiberg fortsetzen, doch nun muss ich umplanen. Der Weg ist gesperrt und vor allem unpassierbar. Deshalb gehe ich vom Leuchtturm erst ein Stück oberhalb der Steilküste entlang und folge dann dem Pfad hinab zur anderen Uferseite der Insel.

Noch kehre ich nicht direkt in den Ort zurück, sondern mache zuvor noch einen Abstecher zum Enddorn. Dieser östlichste Teil der Insel bietet Zugang zum Strand und einen herrlichen Blick auf Rügen. Auch das Kap Arkona steht noch auf meiner Liste, denn dort war ebenfalls ein sehr berühmter Maler unterwegs. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zurück nach Kloster – KM 9

Vom Enddorn laufe ich zunächst am Feld entlang und dann an der breiten Hauptstraße zurück nach Kloster. Hiddensee im November hat seinen eigenen Reiz: Nur Naturgeräusche, kein Autolärm, kaum Menschen. Sehr stimmungsvoll. Doch die Infrastruktur ist außerhalb der Saison eher dürftig. Alles hat geschlossen, nicht einmal ein Kaffee ist zu bekommen. Ich freue mich mit den Unternehmern, die ab April 2025 wieder Gäste empfangen, und wünsche ihnen eine erfolgreiche Saison. Zum Glück habe ich ein kleines Picknick dabei.

Am Nachmittag fahre ich mit der Fähre, die bei Dämmerung nach Schaprode zurückkehrt, und genieße einen herrlichen Sonnenuntergang. Ein Hauch Wehmut schwingt mit. Hier schließt sich ein Kreis, der mit meinem ersten Training als Siebenjähriger begann. Wer das Tanzen einmal für sich entdeckt, den lässt es wohl ein Leben lang nicht mehr los.

Ach ja: am Grab von Palucca war ich natürlich auch noch. Und an dem von Schriftsteller Gerhart Hauptmann. Und an den Gräbern der Maler Oskar & Max Kruse. Die lebten nämlich auch alle auf Hiddensee und fanden auf dem Friedhof von Kloster ebenfalls ihre letzte Ruhe.