Trotzdem die Nacht kühl war, habe ich ausgezeichnet geschlafen. Die Luft in dieser Höhe scheint von besonderer Güte. Vielleicht lag mir aber auch als Mittelgebirgswanderer einfach nur die Anstrengung des gestrigen Tages in den Knochen. Noch hat die Sonne es zwar nicht geschafft, ihre wärmenden Strahlen über die Gipfel der umgebenden Berge zu schieben. Dafür ist mein heutiger Bergführer seit Stunden wach. Den Aufstieg von Gressoney-Saint-Jean, den ich gestern gegangen bin, hat er bereits hinter sich und wartet auf mich vor dem Refugio Alpenzu. Nach einer kleinen Vorstellungsrunde, er heißt Simone Origone, machen wir uns gemächlichen Schrittes auf den Weg.
Zum Colle Pinter-Pass (2.776m)
Während Simone beruhigend langsam das Tempo vorgibt, komme ich ganz schön ins Schwitzen. Ich bin es einfach nicht gewohnt, dauerhaft Treppen zu steigen. Denn nichts anderes scheint das hier zu sein und macht sich zu allem Überfluss auch noch krampfhaft in meinen Oberschenkeln bemerkbar. Für andere mag das ein Spaziergang sein, für mich ist es ein nicht aufhörender Kampf gegen den inneren Schweinehund. Doch Simone lässt sich nicht aus dem Tritt bringen. Fast stoisch gibt er das moderate Tempo vor, führt Schritt für Schritt an. Und das ist auch gut so. Für einen kurzen Moment gelingt es mir, den Kopf auszuschalten und einfach mal an Nichts zu denken. Hatte ich so auch noch nicht.
Kurz vor dem Pass des Colle Pinter machen wir für einen kurzen Moment Rast. Die Sonne ist mittlerweile im Zenit, die Wolken schaffen es nicht, sich an den Berghängen hochzuarbeiten und auch die Geräusche aus dem Tal dringen nicht mehr herauf. Zur Leere im Kopf gesellt sich die Stille um uns herum. Kein Laut, kein Rascheln, kein Wind – was Yogi in jahrelanger Meditation zu erreichen versuchen, gelingt mir auf einer leicht einzustufenden Bergwanderung in den italienischen Alpen. Ich finde meine innere Ruhe. Allein dafür hat sich die Anstrengung gelohnt.
Den Pass übersteigen
Erst auf dem Pass in knapp 2.776 Meter Höhe machen wir eine längere Rast. Die Luft ist dünn geworden, das Atmen fällt mir schwerer. Dennoch bin ich ob meiner Fitness überrascht. Hatte ich eingangs vermutet, dass Körper und Großstadt-Bequemlichkeit mich hierbei an meine Grenze bringen würden, erhole ich mich relativ schnell.
„Was machst Du eigentlich, wenn Du mal keine Leute die Berge raufführst?“ frage ich Simone.
Er lacht: „Dann fahre ich Ski!“
„Zum Zeitvertreib? Bist Du Ski-Lehrer?“
„Nein“ antwortet er. „Ich fahre Speedski.“
Ah. Das muss ich erst einmal googeln. Zum Glück und erstaunlicherweise gibt es selbst in dieser Höhe, in dieser Einöde, superschnelles Internet. Was in Deutschland unvorstellbar ist bringt mich hier zum Staunen. Und das gleich in zweifacher Hinsicht. Denn bereits der erste Treffer, den Google vorschlägt, offenbart meinen Bergführer als berühmten Sport-Promi.
Ungläubig schaue ich ihn an. „Du bist Weltrekordhalter im Geschwindigkeitsfahren?“ Er lacht erneut, schüttelt den Kopf und meint, er wäre es leider nicht mehr. Sein jüngerer Bruder habe ihm den Titel im letzten Jahr weggeschnappt. Eine Mischung aus Verletztheit aber auch Stolz mischt sich in seine Gesichtszüge. „Aber ich werde mir den Titel zurückholen“ lächelt er und drängt zum Aufbruch. Irgendwie kann ich es noch immer nicht fassen. Der Mann, der mich heute über den Pass des Colle Pinter führt, ist eine alpine Berühmtheit. Und zudem der schnellste Mann auf Ski.
Während des Abzweigs zum nahegelegenen Lago Pinter vertiefen wir uns ins Gespräch. Im Sommer führe er immer mal wieder Wanderer im Auftrag des Tourismusverbands durch die Berge. Das hält fit, meint er, und ersetzt quasi das Training. Sobald der Herbst eingezogen ist, die ersten Hotels geschlossen haben und kaum noch Bergwanderer ins Aostatal kämen, beginnt er mit dem eigentlichen Training. Da der Weltcup erst im Januar ausgetragen wird und sich bis in den April hineinzieht, bliebe somit noch genug Zeit für die Vorbereitung. Aufmerksam höre ich zu und beginne eine Sportart zu begreifen, die ich bis dato noch nicht einmal kannte. Ein Mensch, der mit Leidenschaft tut, was er tut, weiß besser zu vermitteln und erklären als Wikipedia. Eine Binsenweisheit zwar, aber in diesem Falle mehr als zutreffend.
Aber ich schweife ab. Ich habe nie richtig verstanden, warum es Menschen hoch in die Berge zieht. Klar, die Sicht von oben auf die Dörfer in den Tälern ist sicher toll. Aber warum gehen Menschen ausgerechnet dorthin, wo Stein und Geröll aufhören und Schnee und Eis beginnen? Hier und heute erfahre ich einen kleinen Eindruck davon – die Ruhe, die Abgeschiedenheit. Nichts Alltägliches was einen ablenkt, nur der eigene Atem und das Spüren der eigenen Körperkraft. Das Denken schaltet sich ab, von Interesse ist lediglich der nächste Schritt. Der Fuss muss vorsichtig gesetzt werden, sonst droht Gefahr. In höheren Lagen sogar Lebensgefahr. Mittlerweile denke ich, die Reduktion allen menschlichen Seins auf das Gehen, das Wandern ist es, was einige von uns soweit nach oben zieht. Für andere mag es eine Art Religion sein. Oder eine Droge. Für mich ist es pure Meditation.
Abstieg nach Crest
Drei Kilometer und unzählige Höhenmeter später erreiche ich die kleine Siedlung Cunéaz. Auch dies ein kleines Walserdorf, welches im 19. Jahrhundert knapp 100 Einwohner gezählt haben soll. Mit einer Schule, Kirche, Mühle und einem Ofen für jedermann ausgestattet konnten die Menschen so das ganze Jahr über hier leben. Heute ist es der liebevollen Hingabe übrig gebliebener Einwohner zu verdanken, dass die Siedlung authentisch und originalgetreu Stück für Stück restauriert wird. Ein Restaurant und das Refugio L’Aroula laden Touristen und Bergwanderer ein, die gern auf städtische Annehmlichkeiten wie zum Beispiel das Auto verzichten möchten. Übernachten wie im Mittelalter. Nur mit Warmwasser und Klo. Soviel Luxus sollte selbst auf knapp 2.000 Höhenmetern sein.
In Crest angekommen bedanke ich mich bei Simone für seine sympathische Führung und den Einblick in das Leben eines Hochleistungssportlers. Genau genommen sollte ich mich auch noch für die faszinierende Bergwelt, die er mir gezeigt und den inneren Friede, den ich gefunden habe, bedanken. Sollte jemand eine ähnliche Erfahrung anstreben, kann ich diese Tour ausdrücklich empfehlen. Wie bereits erwähnt führt Simone Origone sehr sympathisch in die Bergwelt der kleinsten autonomen Region Italiens – in die Bergwelt des Aostatals.
Übernachtungstipp
Sollte jemand die Tour genau wie ich laufen, empfehle ich als Tagesziel gern das Hotel Cré Forné. Oberhalb der Seilbahnstation aus Champoluc kommend thront es über einem Felshang und bietet einen spektakulären Ausblick auf das Ayas-Tal und die angrenzende Bergwelt. Und nicht nur das. Die Küche ist vorzüglich und der Spa-Bereich weiß mit Ideenreichtum und luxuriösem Ambiente zu überzeugen. Der Inhaber Nello Abate führt das Haus sehr familiär und mit Liebe zu kleinen Details. Eine besondere Empfehlung nach einem anstrengenden und ereignisreichen Tag. Ein paar kleine Eindrücke habe ich hier zusammengestellt.
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