Was geschieht, wenn man ein Leben fast zu Ende gelebt hat? Man blickt zurück. Unweigerlich. Erinnerungen sind nunmal das einzige, was einem davon bleiben wird. An denen hält man fest, sinniert und hängt dem Erlebten noch einmal nach. Das kann zuweilen melancholisch machen. Vielleicht auch traurig. Aber auch erheitern und fast aberwitzig werden. Situationen können hochspülen, die scheinbar längst vergessen wurden und verändern im Rückblick den Fokus. Und wo kann man diese Erinnerungen am besten wachrütteln? Dort, wo sie entstanden sind. Hanno Rinke, mittlerweile 74-jährig, tut das und begibt sich, nach einem Schlaganfall in seiner Mobilität eingeschränkt, auf eine Reise zu genau diesen Orten und Momenten. Ohne Schnörkel, ohne Tabus. Aber stets unterhaltsam.
Wer ist Hanno Rinke?
1946 in Berlin geboren, studiert Hanno Rinke erst Jura später Komposition. Wer seit den 70ern den Auflagen der Deutschen Grammophon aufmerksam folgt, wird seinen Namen schonmal gehört haben. Ja genau, die Deutsche Grammophon. Im Zuge seiner Tätigkeit für das – hergehört – „älteste Klassiklabel der Welt“ produziert er über 250 Aufnahmen mit so großen Stars wie Herbert von Karajan, Leonard Bernstein und Martha Argerich. Wer kein Faible für klassische Musik besitzt, dem werden diese Namen vermutlich nichts sagen. Nur soviel zur Größe der genannten: „West Side Story“* ist das vermutlich bekannteste Stück von Bernstein und ein Klassiker des modernen Musicals.
Nach seinem Ausscheiden 1993 pendelt Hanno Rinke zwischen seiner Wahlheimat Hamburg und dem italienischen Südtirol, wirkt seitdem als Filmemacher und Autor. Dass alles muss man nicht wissen. Hilft aber enorm beim Lesen des Buches „Fast am Ziel“*. Denn das gibt explizite Einblicke in ein Leben, dass vielfältig, unbequem, aneckend, witzig und traurig, aber vor allem äußerst interessant ist.
Worum geht es im Buch von Hanno Rinke „Fast am Ziel“?
Eine Reise steht an. Von Hamburg über den deutschen Osten bis nach Apulien in Italien. Eine physische Reise an die Orte, die Hanno Rinke unbedingt noch ein letztes Mal besuchen möchte. Was nicht ganz einfach ist. Seit einem Schlaganfall in seiner Mobilität deutlich eingeschränkt ist der Autor im Alltag auf fremde Hilfe angewiesen. Daher begleiten ihn langjährige Weggefährten und fungieren parallel nicht nur als Stichwortgeber, sondern helfen zu erinnern.
Darüber hinaus steht auch noch der emotionale Ausflug an. Parallel zu den Orten und Regionen, die Hanno Rinke und seine beiden Begleiter besuchen, wollen auch Erinnerungen geweckt und mit neuem Leben gefüllt werden. Auch wenn das Buch* mit vielen Tipps und Infos über Restaurants, Hotels und regionale Besonderheiten aufwarten kann, ist es am Ende kein klassischer Reiseführer oder Reisebericht. Vielmehr ist es eine Autobiografie die fesselt, zum Nachdenken anregt und mit den Berichten eines Zeitzeugen an längst vergangenen Orten rührt.
Mein Fazit
Zugegeben, ich musste mich beim Lesen erst an die doch sehr eigene Ironie gewöhnen, die zuweilen auch in herzlich-sympathischen Zynismus abdriftet. Der Schreibstil trifft manchmal zu deutlich in offene Wunden und steht damit etwas der gesellschaftlichen Political Correctness entgegen. Im Gegenzug macht aber genau das erkennbar, um welchen Charakter es sich bei Hanno Rinke handelt. Kein bequemer, kein sich unterordnender, der sich gesellschaftlichen Normen anpasst. Sondern einer, der schon früh lernt, eigene Wege zu gehen. Und diese dann eben mit dem nötigen Nachdruck.
Ich will hier mit Absicht nicht zu viel verraten. Trotz aller humorvollen und witzigen Eindrücke, schmückt der Autor Hanno Rinke seinen Bericht mit geistreichen, gar philosophischen Ansätzen. Diese authentische und vielschichtige Vermischung hat mir gut gefallen und mich top unterhalten. Ein Buch, perfekt für Abende, an denen das letzte Licht des Tages zu früh vergeht und den Leser in einen Zustand des Sinnierens und Nachdenkens bringt.
Eine Empfehlung.
PS: Wer mehr über den Autor Hanno Rinke und sein bewegtes Leben wissen möchte, dem empfehle ich seine Homepage. Mit interessanten Gedanken, Essays und Videos wird der Horizont des hier beschriebenen Buchs* dort noch erweitert.
PPS: Und wer schonmal vorab reinlesen möchte – hier gibt es eine Leseprobe.
Fast am Ziel – 99 Umwege
Geschrieben von Hanno Rinke
Erschienen im Mitteldeutscher Verlag
420 Seiten | € 20,00 [D]
ISBN 978-3-96311-379-6
Vielen Dank an den Mitteldeutscher Verlag für die Zurverfügungstellung des Rezensionsexemplars.