Auf die Sextner Rotwand und hinab ins Fischleintal (10km)
Es ist einer der letzten warmen Herbsttage 2018. Während anderenorts die Freibäder ihre Saison sehr zur Freude der Kids noch etwas verlängert haben, wandere ich in den nördlichen Dolomiten. Den Pragser Wildsee und den Sextner Hausberg Helm habe ich bereits erkundet. Heute ist die wohl berühmteste Rotwand der Alpen dran – die Sextner Rotwand. Was mir bisher nur aus Romanen oder Erzählungen bekannt war, darf ich nun mit eigenen Augen entdecken. Oder vielmehr mit eigenen Füßen erlaufen.
Da in den Alpen zu wandern immer auch etwas anstrengender als das Mittelgebirge ist, schenke ich mir die ersten Höhenmeter und nutze einmal mehr die Seilbahn. Diese bringt mich völlig entspannt auf gut 2.000 Höhenmeter erst zur Rudi-Hütte und später zur Rotwandwiesenhütte. Auf dieser steppt sprichwörtlich der Bär. Volksmusik tönt lautstark von ihrer Terrasse und macht mich neugierig. Ich laufe die wenigen Meter rüber und erkenne schon beim Näherkommen, dass alle Sitzbänke auf der Terrasse bereits besetzt sind. Es wird gelacht, getrunken und gefeiert. Obwohl erst 10 Uhr morgens ist der Saisonabschluss bereits in vollem Gange. Dabei habe ich Glück. Ab morgen wäre die Hütte für diese Saison erst einmal geschlossen. Der Sommer hat seine Spuren hinterlassen und die Gebäude müssen für den Winterandrang wieder fit gemacht werden. So gönne auch ich mir zum Einstieg erst einmal Bier und genieße diese besondere Stimmung. Die Wanderung kann warten.
Entlang der Sextner Rotwand
Angeheitert mache ich mich eine Stunde später dann doch auf den Weg. Erst steil, später ausgesetzt und immer oberhalb des Kamms windet sich der Weg entlang schroffer Felsen und atemberaubender Ausblicke. Da heißt es schon mal aufpassen. Ein falscher Schritt und man kommt dem Abgrund näher als einem lieb sein kann. Auf halber Höhe kommt mir eine junge Frau entgegen und spricht mich direkt auf deutsch an. Ob ich ihren Mann und ihren sechsjährigen Sohn gesehen habe, fragt sie mich. Da ich verneine, schaut sie sich hektisch um, wirkt verzweifelt. Sie vermisse sie jetzt schon eine Weile und habe Angst, dass ihnen etwas zugestoßen sei. Ich versuche sie zu beruhigen. Da sie mir nicht entgegen gekommen sind, können wir uns einen weiteren Rückweg sparen.
Gemeinsam laufen wir den Kamm entlang und schauen nach jedem Abzweig. Wenig später finden wir die beiden ganz entspannt auf einem Vorsprung sitzend und vergnüglich beim Blick zur Drei-Zinnen-Hütte ihre mitgebrachten Brote verspeisen. Sie muss direkt an ihnen vorbei gelaufen sein. Die Anspannung fällt ab und weicht glücklicher Freude. Wir unterhalten uns einen Moment und stellen fest, dass uns eine Gemeinsamkeit verbindet: wir kommen aus der selben Gegend, genauer meiner Heimatstadt. Ein Hoch auf die Sachsen!
Während einer Rast in einem Bunker des Freiluftmuseums stelle ich mir die Soldaten des Ersten Weltkriegs vor, wie sie ausgehungert und frierend hier am Feuer gehockt und den Winter verbracht haben.
Zum Freilichtmuseum „Bellum Aquilarum“ auf der Andertealm
Hinter den Metwandköpfen folgt der Abzweig in Richtung Fischleintal. Dem Wanderweg mit der Nummer 122 folgend biege ich hier ab, werde jedoch wenige Minuten später erneut aufgehalten. Ein junger Österreicher in voller Klettersteigmontur spricht mich an und will wissen, ob ich wisse, wo die Reste der Andertealm zu finden seien. Er ist heute schon den kompletten Sextner Rotwand-Klettersteig durchstiegen, finde aber dieses blöde Freiluftmuseum nicht. Etwas müde setzt er erst seinen Helm und später den Rucksack ab. In dessen Außentaschen stecken zwei leere Bierbüchsen. Offenbar gönnt man sich dann doch das ein oder andere Getränk unterwegs. Aus dem Deckelfach seines Rucksacks holt er noch zwei weitere Büchsen heraus und bietet mir eine davon an. Alkoholtechnisch läufts heute irgendwie.
Nebenbei checken wir unsere Wanderkarten. Während er eine mir unbekannte App nutzt, schaue ich auf meiner Lieblings-Anwendung Outdooractive nach. Dank Internet und GPS können wir fast auf den Meter genau unsere Position bestimmen. Obwohl ich auch in meiner App nur eine vage Verortung finde, machen wir uns einfach zusammen auf den Weg und werden wenig später fündig. Sofern man nicht danach sucht, würde man direkt an den Fundamenten vorbeigehen. Erst bei genauem Hinsehen geben sich die ehemaligen Schützengräben zu erkennen. Aufgemauert und in den Fels geschlagen kämpften an dieser und anderen Stellen der Dolomiten vor gut 100 Jahren Italiener gegen Österreicher. Die Spuren sind heute noch sichtbar. Fast eine ganze Stunde durchstreifen wir gemeinsam die Gemäuer und staunen über all die Unwirtlichkeit, denen die Soldaten damals ausgesetzt gewesen sein müssen. Einfache Bauten, steile Stiege – hier wurde hart gekämpft und am Ende verloren. Zum Glück haben sich die Zeiten seitdem geändert.
Abstieg ins Fischleintal
Nachdem wir genug Geschichte für einen Tag getankt haben, verabschiedet sich der junge Mann in Richtung Sentinellascharte. Diese liegt direkt auf dem Dolomiten Höhenweg Nr. 9 und führt ihn zu seinem Startpunkt zurück. Mich dagegen zieht es hinunter ins Fischleintal und ich beginne mit dem steilen Abstieg. Schließlich wollen auf den nächsten zwei Kilometern noch gut 400 Höhenmeter überwunden werden. Zwischen den umliegenden Bergen schieben sich vereinzelt Strahlen der mittlerweile tief stehenden Sonne und tünchen die Talschlusshütte am Ende des Fischleintals in zauberhaftes Märchenlicht. Immer wieder bleibe ich stehen, um den magischen Anblick zu genießen.
Am frühen Nachmittag komme ich dann endlich am ausgetrockneten Flussbett des Fischleintal-Bachs an. Auch an der Talschlusshütte wird Saisonabschluss gefeiert, trotzdem die Stimmung hier schon etwas verhaltener ist. Zu ehrwürdig, zu mächtig thronen Einserkofel und Schusterplatte über dem Tal und werfen lange Schatten. Lange hält es mich an dieser Stelle und lasse ich mir Zeit für den Weg nach Sexten. Gerade jetzt im Herbst haben mich Licht und Farben der Sextner Rotwand und des Fischleintals komplett verzaubert. Ich kann nur wiederholen, was ich auf dem Helm schon erfühlt habe: ich bin verliebt. Und ich fürchte, das wird sich so schnell nicht mehr ändern…